Seascapes

[Niederschwelligkeit] Lange Abende im Norden

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Die Tage der Sommersonnenwende liegen schon wieder einige Wochen zurück. Wir waren im Norden um diese Zeit. Auf Sylt. Dort oben kann man ein bisschen am Lebensgefühl Nordeuropas schnuppern. Näher an den Mittsommer kann man in Deutschland nicht kommen. Die Sonne rollt erst nach zehn Uhr langsam und flach auf den Horizont herunter, dunkel wird es nicht vor zwölf und um drei vertreibt das Licht aus Nordosten schon wieder die Sterne vom Himmel. Die Grenze zwischen Tag und Nacht verwischt, die Kinder sind wach bis in die Puppen, brauchen und wollen aber nichts ausser freie Hand. Und abends mit einem Bier oder Wein nochmal an den Strand zu gehen ist der entspannteste Teil des Tages. Nehme ich mein Stativ mit? Meine Kamera? Einen Graufilter vielleicht? Den Kabelauslöser?

Smartphones haben Ihren Platz in der Fotografie gefunden, weil sie tatsächlich 'immer' dabei sind. Ich weiß nicht, ob es vor diesen elektronischen Schweizermessern je einen Gegenstand gab, den so viele Menschen auf der Erde so viele Stunden des Tages unmittelbar bei sich hatten. Von Kleidung mal abgesehen. Smartphones stehen für maximale Niederschwelligkeit. Es ist kein Aufwand sondern reine Gewohnheit, die Kamera aus der Hosentasche zu ziehen und beiläufig anzuwischen, wenn einem ein Motiv, ein Detail oder eine Situation auffällt. Keine dezidierte Kamera kann das momentan ersetzen, egal wie gut oder wie klein sie ist.

Das Smartphone in meiner Tasche ist keines aus irgendeiner Luxusliga. Es war billig. Seit zwei Jahren muss es sich mit dem Innenleben meiner Hosentasche herumschlagen, geniesst in gedankenlosen Momenten schon mal die Gesellschaft des Schlüsselbundes oder eines Taschenmessers. Vom alltäglichen Staub und der Körperwärme, von Feuchtigkeit und Biegekräften ganz zu schweigen. Niemals würde ich eine Kamera so behandeln. Aber es ist da, wenn man es braucht.

Natürlich schleppe ich Kamera, Stativ und Zubehör nicht an den Strand, wenn ich dort abends mit meinen Lieben und mit Freunden einfach noch das hier und jetzt geniessen möchte. Und natürlich bereue ich genau diese Entscheidung dann, wenn ich dann vor meinem inneren Auge die Bilder sehe, die ich nur hier und jetzt machen könnte. Diesmal aber dachte ich: "Ach was! Ich hab doch eine Kamera dabei. Die wird das doch auch können, irgendwie!" Und hab einfach angefangen, das Smartphone in den feuchten Sand zu stecken oder in das nasse Holz einer zerfressenen Buhne zu keilen. So ging das dann bald jeden Abend. 

Im Kameramenü meines Huawei gibt es eine Funktion, die durch Mehrfachbelichtung den Effekt eines Graufilters simuliert. Man kann auf dem Monitor live beobachten, welchen Grad des Verwischens man bereits erreicht hat und die Belichtung jederzeit abbrechen. Die Bildhelligkeit stimmt immer. Niederschwellig.

Natürlich geht das auch besser. Aber um welchen Preis? Die Bilder zu diesem Beitrag würde es ohne die Niederschwelligkeit eines Smartphones einfach nicht geben. Ich hätte nämlich auch ohne Smartphone meine Ausrüstung nicht jeden Abend mitgeschleppt. Schon gar nicht, wenn es das eigentliche Ziel war, sich noch Geschichten zu erzählen, gemeinsam auf das Meer zu schauen, Salzluft zu atmen und mit den Kindern noch mal eine Krabbe aus dem Sand zu buddeln oder einen Drachen steigen zu lassen.

Liest sich das jetzt wie ein Pladoyer für das Smartphone, am Ende vielleicht sogar für diese etwas klebrige Ästhetik, die auf noch einem handtellergroßen Monitor wirkt? Das wäre blöd. Um was es mir geht, ist nämlich der besondere Reiz der Niederschwelligkeit. Diese Mischung aus Gelegenheit (wann auch immer die eigene Aufmerksamkeit 'zuschlägt', wann auch immer man mal für 5 Minuten seiner Achtsamkeit begegnet) und aus Selbstverständlichkeit (im Gebrauch des Geräts oder in der gesellschaftlichen Akzeptanz, eben schnell ein Bild machen zu können ohne damit den Rahmen des Moments zu sprengen). Niederschwelligkeit ist nicht die hübsche Schwester des fehlenden Engagements. Sie steht für Freiheit, Ungezwungenheit, Spontaneität. Deswegen wächst sie mir zunehmend ans Herz.

Alle Bilder dieses Beitrags stammen von der Insel Sylt. Die meisten davon sind am Strand von Rantum entstanden, die Beton-Tetrapoden liegen an der Hörnumer Odde. Huawei P8 lite 2017, kein Stativ, kein Graufilter. Nachbearbeitet gleich vor Ort und seither auf Instagram zu finden.

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Dirk schrieb am 16.08.2019:

Hallo Stefan!

Ich sitze gerade früh am Morgen draußen auf unserer Terasse in einem kleinen Ort in Südfrankreich in der Nähe von Narbonne. Ich genieße meinen ersten Kaffee des Tages während die Lieben noch schlafen. Aus einer inneren Eingebung habe ich deinen Blog nach langer Zeit mal wieder aufgerufen. Ich hatte leichte Sorge, da von Dir schon lange nichts mehr an dieser Stelle geschrieben wurde. Um so mehr habe ich mich über deinen neuen Beitrag gefreut. Und gleich noch einen neuen Begriff gelernt: Niederschwelligkeit. Ich persönlich schätze weiter die Möglichkeiten, den Spaß und auch die "Schönheit" des Werkzeugs Kamera so hoch ein, dass ich mir die Last des Tragens einer kleinen Schultertasche auch in diesem Urlaub fast nie erspart habe. Und wenn, dann baumelt die Kamera mit Objektiv einfach direkt am Handgelenk. Ich kann deine Argument verstehen, aber sowohl Ergebnis als auch der Schaffensweg dahin würden mich nicht zufriedenstellen. Daher nehme ich mir jetzt die Kamera und schlendere zu meiner Frau, die gerade auf den Treppen zu unserem Haus sitze und die Sonne genießt, um einen Schnappschuss zu machen. Die Kamera ist nämlich zur Hand, das Smartphone gerade nicht ;-)
Viele Grüße, ich freue mich immer wieder von dir zu lesen und bin gespannt, wo deine fotografische Reise weiter hin geht.
Dirk
 
 
Lieber Dirk,

Wie schön von Dir zu lesen! 'Captain Subtext' sagt mir, dass Du die Ergebnisse meiner 'Bemühungen' mit dem Smartphone nicht überzeugend findest. Das tut mir ganz gut, weil und wenn auch die sonstigen Reaktionen (Instagram und echte Welt) eher positiv waren. Hinterfragung tut aber immer Not und zwingt zum Nachdenken. Das kann kein Fehler sein.

Du weißt (glaube ich) dass ich ja auch ein großer Liebhaber der 'schönen' Ausrüstung bin. Sonst hätte ich nicht so viel Spaß an Pentax, an den Limiteds, an der KP. Gleichzeitig wollte ich mal für mich auf den Punkt bringen, warum es Situationen gibt, in denen die Kamera plötzlich eine untergeordnete Rolle spielt und das Bild trotzdem wichtig bleibt.

Seit der Artikel fertig war, habe ich plötzlich wieder jeden Tag eine APS-C-Kamera in der Tasche. Einen Nerv triffst Du also auf jeden Fall.

Mein next big thing ist - das weiß ich schon - allerdings noch mal eine ganz neue Technik für mich. Beim Kauf meines Geburtstagsgeschenks war ich nämlich dabei. Aber ich verrate mal nix sondern verspreche nur, dass Du auch weiterhin ab und zu hier Neues lesen und sehen kannst!

Bin auch gespannt, wieder von und bei Dir zu lesen! Liebe Grüße in den Urlaub:

Steff

Werner schrieb am 05.09.2019:

Tatsächlich sieht man deinen Fotos (auf den flüchtigen Blick – und beim Lesen auf dem Bildschirm eines Laptops oder dem Monitors auf dem Smartphone werden es selten intensivere Blicke) nicht an, dass sie „niederschwellig“ mit dem mobilen Gerät entstanden sind. Und: spielt das eine Rolle? Geht es nicht immer wieder um das Einfangen unserer Gefühle, um das Festhalten unserer Erinnerungen? Wollen wir nicht zu Hause auch den Daheimgebliebenen zeigen, wo wir waren und „was“ wir gesehen haben? Wie sehr es uns bewegt hat? 


Ich habe zwar auch (fast) immer mein „schweres Gerät“ dabei. Auch in meinem gerade beendeten Urlaub. Aber grundsätzlich fühle ich wie du. Ein wenig beneide ich dich um die Kamerafunktion: die nämlich hat mein Smartphone nicht. :-(

Ach ja: Und schön von dir zu lesen….

Liebe Grüße und auf einen schönen Herbst!

Werner
Lieber Werner,

Entschuldige Bitte, dass Du so lange auf die Freischaltung und meine Antwort warten musstest. Ich war im Urlaub, diesmal nicht im Norden und diesemal eher unfreiwillig ohne Kamera (aber das wäre eine eigene Geschichte...)

Ich danke Dir für Deine Rückmeldung. Auch Dirk hatte sich nochmal gemeldet und zurechtgerückt, dass sein Kommentar eher allgemeiner Natur war. Er schrieb, die Bilder seien 'stimmungsvoll und erstaunlich gut' und genau so ging es mir ja auch damit. Und Dir, wenn ich Dich richtig verstehe. Technik wird überbewertet.

Herzliche Grüße! Steff
 
Oli schreibt am 29. September 2019:
 
Die maximale Kommentar-Verzögerung bringt spielt mir mit einem anderen Gedanken zum Thema in die Hände. Hätte ich deine Gedanken direkt im August kommentiert, dann wäre das wohlwollend kritisch ausgefallen. Ja, das Smartphone ist eine tolle Ergänzung - aber in keinem Fall eine echte Gefahr für eine richtige Kamera. Eine Kamera mit der man bewusst und mit Konzept (oder Intuition) komponiert. Haben die Kameras doch was Auflösung, Qualität die Nasen noch immer vorne. Und dann noch die unglaublichen Möglichkeiten die einem der Wechsel des Objektives ermöglichen. Gerade mein Lieblings-Sujet UWW aus tiefem Standpunkt mit Sonnensternen sind unerreichbar für Apple&Co.
 
Heute, einige Tage nach der Vorstellung des (Luxus-)iPhone 11 fange ich an neu zu denken.
Denkt doch die überteuerte Schokoladentafel genau meinen Anwendungsfall: 15mm-35mm. Okay, das mit den Sonnensternen kann das Ding (noch) nicht, aber ich würde mich nicht wundern, wenn es da nich bald was vom AppStore gibt.
Was löst die Vorstellung bei mir - abgesehen von meinem unheilbaren Apple-GAS aus?
Zuerst hatte ich Angst bekommen! Jeder Depp kann jetzt mit einer UWW Linse loslegen und die sozialen Medien werden mit einer Unmenge an guten (und noch mehr schlechten) UWW- Bildern geflutet. Da gehen meine wenigen Bilder dann ganz unter. Frei den Buggles: „Apple killed the UWW-Star“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Video_Killed_the_Radio_Star
Mit etwas Abstand sehe ich das inzwischen realistischer. Ja, es wird mehr UWW Bilder dank Apple geben. Es werden mehr „Influencer“ geben die auf den Zug aufspringen. Es werden noch mehr geheime individuelle Orte auf der Welt dank aufregender Bilder mit UWW Look nach Instagram&Co gespült. Und? Sind es Bilder mit Seele? Bilder die bei einer langen Wanderung entstanden sind die von der Mühe und der Beschäftigung mit dem Weg zeugen? 
Ich glaube beides hat seine Berechtigung. Der Smartphone Schnappschuss der nebenbei entsteht, wenn etwas anderes/wichtigeres im Vordergrund steht und das Foto das ich bewusst mache. 
 
Also am Ende alles gut so wie es ist. Wir machen einfach weiter so wie wir wollen und lassen uns von den Influencern nicht das Motiv madig machen.
 
Sic!
 
Was soll ich Dir da noch Antworten, lieber Oli? Ich hab mir zwischendurch mal beinahe die Pentax ruiniert mit dem peinlich gescheiterten Versuch einer Sensorreinigung. Herr Lorenzen von Kamerazeit in Lübeck (ein 100% Tipp für Pentaxianer) hat sie wieder hinbekommen. Da hab ich auch wieder drüber nachgedacht, ob so eine komplexe und letztlich anfällige Systemkamera (egal ob mit Spiegel oder ohne) eigentlich noch zeitgemäß ist. Andererseits ist die KP jetzt wieder da und wenn ich sie in die Hand nehme, kommen immer Bilder raus, die an Natürlichkeit von einem Smartphone nicht mal andeutungsweise erreicht werden. Wenn ich die ersten Tests des iPhone 11pro anschaue, gilt das auch für dieses teure Ding. Von daher: Alles gut. Jedes Ding hat sein Recht und seinen Platz.
 
Viele L
liebe Grüße und vielen Dank für Deinen Kommentar: Stefan